“Phobia”

Captain's Log

Die erste Ausstellung hieß “Darkness”, die zweite “Phobia”. Wie immer passend zu unserer Zeit, passend zur alltäglichen allseitigen Ambivalenz. Die Vernissage am 28.10. war überraschenderweise so lustig, dass es fast schon absurd war.

Es ist immer schwierig, den Menschen, die nicht dabei waren, etwas so realitätsnah wie möglich nahezubringen, dass man die Essenz der Situation spürbar machen kann. Manche besitzen genau dieses Erzähltalent, sodass sie langweilige Situationen spannend darstellen können. Andere widerum, die so beeindruckt von der Situation waren, finden keine richtigen Worte. Genau so ging es uns bei “Phobia” in unserem Instagram-Live.

Bei unserer ersten Vernissage “Darkness” ging alles noch sehr geplant vonstatten. Bei “Phobia” war das Umfeld so familiär – trotz dessen, dass großteils neue Gesichter zu Sehen waren – dass glatt auf die Instagram Lives vergessen wurde und die bewegende Eröffnungsrede von Lucy Luck nur noch in den Köpfen und Herzen der Anwesenden nachklingt, nicht jedoch für die Nachwelt festgehalten wurde. Der Versuch, diese Energie zu reproduzieren endete in allseitigem Gelächter, was man im Nachhinein als Situationskomik verbuchen kann. So wie fast alles, hat auch die Digitalisierung ihre Nachteile, wie man anhand dieses Beispieles so wunderbar sehen kann. Denn wie schon Der Schüler Gerber (aus dem Roman “Der Schüler Gerber” von Friedrich Torberg, 1930) so passend beschreibt, wie unmöglich es ihm ist, seine Liebe zu Papier zu bringen, war es doch genau das selbe Scheitern, einen einmaligen Moment mit einer ungreifbaren anonymen Masse zu teilen.

Sich auf einem tieferem Level verstehen

Eines Tages saßen einige Leute in der Galeria. Sie unterhielten sich angeregt über verschiedenste Themen. Für reine Beobachtende hätte dieses Geplänkel undurchschaubares Chaos bedeutet, denn es gab keine klaren Linien im Gespräch, alle redeten vermeintlich wild durcheinander und die Themen sprangen hin und her wie Flöhe auf einem wildlebenden Fuchs, gleichzeitig fühlte sich jede Person für sich sehr gut aufgehoben, gesehen und verstanden. Es war wie Balsam für die Seele. Aus diesem Gespräch heraus ergab sich die Idee für “Phobia” und am selben Tag wurde der Artist-Call geschrieben.

Genau einen Monat später war es dann soweit und die Werke von zwei wunderbaren Wiener Artists wurden ausgestellt.

Artists

Sev Wildfang

https://sev-wildfang.carrd.co/

Sev’s schöpferische Vorgehensweise entsprang auch beim ausgestellten “Wound Man” einer traditionellen Zeichnung, die danach digital überarbeitet wurde, um den Kontrast zwischen den Farben zu maximieren. Durch die traditionelle Vorzeichnung auf Karton entstehen besonders dynamische Kreationen, worurch sie noch imposanter wirken.

Ihr ausgestellter Print Wound Man befindet sich bis Jänner gleich neben der Eingangstüre von Galeria, wenn man sich nach links wendet. Von unserem gemütlichen Sofa hat man den besten Blick darauf.

Wound Man / Herzblut 2023

Mit Anleihen aus dem Skulpturenwerk dr Amerikanerin Nancy Grossman ist der Wound Man eine Hommage an dasa gleichnamige anatomische Bildgenre aus der Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts. Denn das Innerste des Menschen ist verwundbares Fleisch, das vor den Blicken der Außenwelt durch einen Panzer aus Nieten, Leder und Stahl zu schützen ist.

Phobien sind meist Ängste, die gegen jede Vernunft und Gegenbeweise standhalten – die Angst davor, sein Innerstes der Welt zu offenbaren, ist eine davon.

Sev Wildfang
A365 €
A452 €
A533 €
A620 €
erhältliche formate für print von “wound man”

Noah Essl

https://noahessl.com/

Noah Essl befasst sich mit diversen Herangehensweisen und experimentellen Methoden, die Kunst und Wissenschaft vereinen.

Seine Makrofotografien beschreiben Vorgänge, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind und wecken die Neugier der Betrachter.

A365 €
A620 €
verfügbare formate – fotodruck glänzend

Phobia – Die Warhaftigkeit ist durch viel mehr bestimmt als durch die
Momente, die uns greifbar sind und waren oder bleiben. Wir sind dem
Chaos des Vielen Untertan, im Rauschen des Unwissens sind wir Treibholz.

Im Vergleich zu Furcht, die klaren Bezug zu einer Sache hat, ist die
Angst gegenstandslos und irrational.
Die Motivation der Fotos ist hier von der gegenstandsbezogenen Ebene ins
Abstrakte zu wandern. Es ist von größter Bedeutung, die Intuition und
das Bauchgefühl losziehen zu lassen und emotionalen Bezug zum
Abgebildeten zu erkennen.

Es gibt hier ‘wenig zu verstehen’.
Diese Fotografien sind echt. Das steht außer Frage.
Doch der Moment des Entstehens ist genauso vorbei wie die Phänomene, die
abgebildet wurden. Diese Bilder sind wie eine Erinnerung an etwas, das
du nicht erlebt hast, obwohl es vor deinen Augen passiert ist.
Jede Facette, jeder Blickwinkel,
jede Perspektive und jedes mögliche, individuelle Erleben
in der Vergangenheit ist echt.
Nicht nur das eigene Erlebte – auch alles, das zu erleben möglich war.

“Wir sind alle geprägt vom Diktat unserer Zivilisation, die uns auferlegt, dem Schmerz des inneren Chaos auszuweichen. Angst muss überspielt werden, mensch darf ihr nicht ins Gesicht sehen. Auf diese Weise wird “Gesundsein” zu einem sehr wirkungsvollen Verwirrspiel, um die Krankheit eines chaotischen Innenlebens zu verheimlichen. Am Ende
wird mensch selbst gar nicht wissen, dass eines krank oder verzweifelt
ist.”

Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität. dtv: München 1987, S. 21



Wir sind das Echo einer uns unbekannten Vergangenheit. Wir leben in
unserem eigenen Unbewussten wie der Kratzer in der Schallplatte, ohne
die Musik der Welt zu hören. Im Ungewissen über unseren Einfluss auf
diese selbe Vergangenheit, aus der einmal unsere Zukunft geboren worden
sein wird – das jetzt. In diesem stetigen neu erschaffen werden gibt es
Löcher, gibt es Brüche. Hier und da stolpern und verkeilen sich die
Möglichkeiten und produzieren das Unmögliche.

Hier ist keine Frage mehr nach dem Warum. Kein Schritt zurück,
innehalten und von außen neu betrachten. Im Jetzt ist nicht mehr die
Zeit zum Fragen stellen.

“Ich meine nämlich, Gut und Böse entscheiden sich nicht im Verkehr der Menschen untereinander, sondern ausschließlich im Umgang des
Menschen mit sich selbst.” 

 Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius.
Langen-Müller: München 1985, S. 366

Conspiracy Theory

Die alles “umspannende” Installation ist ganz einfach zu sehen, indem man, egal wo man in der Galeria steht, einfach nach oben schaut…

10 000 Generations

Die ursprüngliche Idee für die Grafik “10 000 Generations” kam aus dem Buch “A new kind of science” von Stefen Wolfram. 10 000 Generations ist eine Visualisierung einer Funktion, die vererbbare Merkmale auf die nachfolgende Generation randomisiert überträgt. Auch hier wieder ein wunderbarer Brückenschlag zwischen Kunst und Wissenschaft.

Die genaue Entstehungsgeschichte, die Originalfunktion und mehr daraus generierte Grafiken unter:

Hier klicken, um den Inhalt von noahessl.com anzuzeigen

10 000 Generations soll der heute scheinbaren Irrationalität der Phobien auf den Grund gehen. Viele Phobien entspringen generationsübergreifendem Verhalten, das heute immer noch in uns ausgeprägt ist und in vielen Formen spürbar, aber nicht mehr richtig greifbar ist.

Noch mehr Tiefe

An der Stelle, wo 10 000 Generations gezeigt wurde, empfahl Lucy außerdem das Buch “The Power of Strangers” von Joe Keohane, das auch einen Teil dieser Verhaltensweisen in der zwischenmenschlichen Kommunikation behandelt, für alle, die dem Thema noch mehr auf den Grund gehen wollen.

Ebenso entstand ein angeregter Diskurs zwischen allen BesucherInnen, genau wie damals an dem Tag, an dem die Idee für “Phobia” entstand.

Das Feeling

Man wird einfach des Staunens nicht müde, wie “cozy” sich diese Ausstellung anfühlt. Ein Teil des Konzepts von Galeria Körperkunst ist, dass man selbst auch Teil der Kunst wird, wenn man möchte. Durch die Anordnung der Ausstellungsstücke kann man richtig in der Kunst versinken. Man würde wohl annehmen, dass “Phobia” negative Gefühle auslösen würde, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Jedes einzelne Bild kann für sich stehen, harmoniert aber auch als Gesamtkunstwerk. Egal in welche Ecke man schaut, am Ende verbindet sich alles, was einen zutiefst tröstenden Eindruck hinterlässt.

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